60 - Erzählung eines Mistkerls [Cover]

60 - Erzählung eines Mistkerls

Paul Pan

Rothenstein Verlag, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten, © Rothenstein Verlag
Umschlagfoto: © Norbert Schulz, Hamburg
Gestaltung: Klaus Paulsen, Kaiserin-Auguste-Viktoria-Koog

Taschenbuch exklusiv bei Amazon Euro 10,00
ISBN: 978-3981449150

ebook Euro 3,99
ISBN: 978-3-9814491-5-0

Inhalt:

Über den Autor

Paul Pan wird jeden Morgen von seinem Spiegelbild gefragt: Wo kommst du her? Wo gehst du hin? Wer bist du? Was willst du? Jeden Morgen hebt er müde die Augenbrauen und die Schultern. Un den Antworten zu entfliehen, schreibt Paul Pan.

Leseprobe



Streben nach großem Ziel
die Taschen prall
los der Würde
Liebe wollen
besitzen
egal der Weg
doch drehen wir uns
um am Ziel
und recken die Köpfe
aus den Gräbern
so sehen wir
nichts
als dass der Weg
die Liebe war

INTRO

Schlag sie tot! Die ganze Zeit bist Du schon von ihr genervt. All Deine Aufmerksamkeit wird Dir abverlangt. Du kannst Dich nicht mehr konzentrieren und bist kurz vorm Ausrasten. Du stöhnst und fluchst. Hörst Du das Summen? Es ist eine Melodie. Vielleicht erkennst Du „As Time Goes By“ und erinnerst Dich? Und weiter dreht die Fliege Kreise um Deinen Kopf und setzt sich immer wieder auf die gleiche Stelle Deines Buches. Das Buch, welches Du ein wenig zu dicht vor der Nase hältst. Warum schlägst Du nicht zu? Hast Du Angst vor dem schwarzen Schmierfleck? Oder teilt die Fliege Dir etwas mit? Warum setzt sie sich immer auf das gleiche Wort?
Du bist zu neugierig. Das muss ich mal los werden. Ja, ich meine Dich, denn Deine Nase steckt in diesen Seiten. Ständig kramst Du in anderen Leben herum, liest Geschichten über Geschichten. Aber: Wie ist es mit Deiner eigenen? Was treibt Dich an? Bist Du Dir wirklich bewusst, warum Du die Wörter hier liest, Dein Geld in Seiten mit einem Umschlag drumherum investierst? Irgendeinen Grund muss es doch geben, im Leben fremder Menschen herumzuschnüffeln? Bist Du ein Spanner? Vielleicht ein Bildungsbürgerspanner oder ein BILD-ungsbürgerspanner? O.k., lies weiter, und nach Buchende kümmerst Du Dich um Dein eigenes Leben. Das musst Du mir versprechen. Es ist ja höchste Zeit für Dich, Deine Vergangenheit zu ordnen, all die Lügen zu gestehen und von der Schaukel der Ängste zu springen.
ja höchste Zeit für Dich, Deine Vergangenheit zu ordnen, all die Lügen zu gestehen und von der Schaukel der Ängste zu springen.
Ich lege noch eine Schaufel drauf und versichere Dir, dass alles auf den folgenden Seiten stimmt, Wort für Wort der Wahrheit entspricht. Ich schrieb meine Erlebnisse und Erinnerungen auf, ohne auch nur ein Quäntchen hinzuzudichten. Darum ein letzter Versuch, eine Bitte, ganz persönlich an Dich gerichtet, wer auch immer Du sein magst: Leg diese Seiten beiseite. Die Seiten beiseitelegen?, denkst Du. Wieso? Ich zahlte dafür! Ehrlich gesagt geht der Inhalt Dich nichts an. Oder was glaubst Du, verdammt noch mal, was mein Leben Dich interessieren könnte? Schnüffle ich in Deinem herum? Ach ja, Du wolltest wissen, wie das Wort heißt, auf dem die Fliege es sich immer wieder gemütlich macht. Das Wort heißt: Wiederkunft.

UND DANN DOCH FORTZUGEHEN,
HAND AUS HAND,
ALS OB MAN EIN GEHEILTES
NEU ZERRISSE UND FORTZUGEHEN:
WOHIN, INS UNGEWISSE (1)

Die ganze Chose begann mit dem Duft, der sich jeden Mittwoch durch die Straße zog. Ich liebte ihn. Und ich stand am Schaufenster des kleinen Geschäftes, in dem Kaffee geröstet wurde. Immer mittwochs, Woche um Woche, Jahr um Jahr streunte ich hier herum und sog tief ein. Arabica! Pur! Hochland! Ganz ohne Robusta. Flachland! Ich stand also in der Nähe des Eingangs und blickte auf die Straße. Und dann kam sie daher, ganz plötzlich, aus dem Nichts - eine auf die Erde gefallene Sternschnuppe. Dunkelblond und mit Gesichtszügen, wie ich sie nur von Skulpturen aus dem alten Rom kannte. In der Hand hielt sie ein zerfleddertes Buch. Ich bückte mich und erkannte einen Gedichtband von Rilke. Warum Rilke? Was hat sie mit dem Romantiker gemein? Immer verschlossen sich seine Gedichte vor mir. Die Seiten schienen mir mit Zuckerwasser und bitterem Honig bedruckt zu sein. Rilke war mir suspekt – ein Frauenversteher.
Sie stand vor mir. Seide floss über ihre Rundungen wie Öl, und der Spätsommer ließ mit einem Windhauch zwei Knospen blühen. Sie sah durch mich hindurch in das Fenster. Mir gefiel das Kleid. Ich glaube, man sagte „süßer Fummel“ dazu, wenn ich mich recht erinnerte. Nun ihr Kleid hatte den hübschen Ausblick, pardon, ich meinte einen hübschen Ausschnitt, der viel zeigte und alles verbarg, kurzum die Fantasie verwirrte. Sie trug keinen BH, so wie damals die Mädels in der Hippiezeit. Daher die ausgeprägten Knospen im kühlen Spätsommerwind. Ein D-Cup auf ihrer Haut hätte sich ebenso erfreut wie meine wärmenden Hände. Auch ihre Beine bewunderte ich; vielleicht eine Kreation von Michelangelo oder einem anderen begnadeten Bildhauer mit Namen Gott oder Rodin. Wie ist eigentlich der Vorname von Rodin? Richtig: Auguste. Und von Gott? Wie spreche ich ihn an, wenn ich mit ihm das fünfte Bier inklusive einigen Klaren trinke? Möglicherweise heißt er Carl oder Carlos. Vielleicht verschweigt er auch seinen Vornamen. Wohl aus gutem Grund. Weil er Chaos von den Engeln gerufen wird.
Pardon, ich schweife ab. Zurück zu ihr: Zierliche Fesseln reckten sich aus ..., na wie hießen die verdammten Dinger noch? Hochhöcker oder Hochstöcker? Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein: Highheels. Die machten die Waden noch strammer. Sie war ein Kunstwerk, ein Gesamtkunstwerk, dem erotischen Traum des Schöpfers entsprungen. So schön, dass ich liebend gerne ein Holzstäbchen genommen hätte, um Gebiss und Zähne zu untersuchen. Gleich dem Schuldoktor damals in der ersten Klasse. Ich hätte das Stäbchen auf die Zunge gedrückt und ihr ein „aaaahh“ entlockt, das mit feinen Vibrationen aus der Kehle dringen würde. „Aaaahh.“ Ein J hätte ich ihr dazu geschenkt und es als Einladung verstanden.
Lang waren ihre Beine. Lang, lang ist es her, dass dieser Anblick meinen Augen geschenkt wurde. Würden meine Fingerspitzen von den Füßen empor gleiten, so bräuchten sie sicher einen ganzen Tagtraum, um von Pore zu Pore bis zum Po zu gelangen. Meine Augen würden wandern durch Tal und Höhe - einen ganzen Vormittag von der Ferse bis zur Kniekehle. So bräuchte ich Stunde um Stunde, um zu den „Kugeln des Paradieses“ zu gelangen. Der Himmelsvater höchstselbst holte sie von der Bowlingbahn und verzauberte sie zu himmlischen Rundungen. Himmlisch? Passte dies Adjektiv für einen Po?
Ich murmelte: „Himmlisch!“
Sie hob die Augenbrauen.
Meine Hände steckten in den Jackentaschen. Eine Vorsichtsmaßnahme. Sie sollten ruhig bleiben. Es zuckte mir in den Fingern. Ich sah in ihre Augen, leuchtend und gütig waren sie. Sie besaßen das geheimnisvolle Funkeln der Jugend und einer noch geheimeren durchliebtenliebten Nacht. Noch immer waren ihre Wangen gerötet. Ganz leicht nur, hingehaucht von einem zarten Kuss, so sanft, wie es nicht einmal das raffinierteste Make-up erschaffen könnte. Dieses Wunderwerk blieb nur einer liebenden Frau vorbehalten. Verdammt, wie jung mochte sie sein? Fünfundzwanzig, einunddreißig?
Wie schade, sie liebte mich nie. Sie sah mich ja nicht einmal. Sie sah einfach durch mich hindurch. Doch in ihren Augen glänzte die Liebe. Ich trat auf sie zu. Und ich ahnte eine Allwissenheit. Weit, weit hinter der Liebe versteckt schimmerte sie. Doch wohin ging ihr Blick? Sie sah nicht einmal in das Schaufenster. Sie sah auch nicht durch das Fenster in den Laden. Sie träumte sich viel weiter. Durch jede Wand hindurch. Wohin? Zu ihm?
Ihn hingegen sah ich nicht. Neben ihr stand er, die Hand um ihre Hüfte gelegt, mit leichtem Druck den Körper an sich ziehend, besitzergreifend.