Am Meer, damals [Cover]

Am Meer, damals

Der Karibik-Roman über Fische und Frauen

Norbert Schulz

Rothenstein Verlag, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten, © Rothenstein Verlag
Umschlagfoto © Philippe Halsman / Magnum Photos / Agentur Focus
Fotos klein und Rückseite: Norbert Schulz, Hamburg
Umschlaggestaltung: Studio Plus Hamburg
Satz und Layout: Studio Plus, Hamburg

Hardcover Leinen 220 Seiten Euro 14,90
ISBN: 978-3-9814491-0-5

ebook Euro 3,99
ISBN: 978-3-9814491-1-2

Inhalt:
Gezeitenwechsel
Am Meer, damals - Der Karibik-Roman über Fische und Frauen
Hochwasser

Über den Autor

Norbert Schulz [Profil-Bild]

Norbert Schulz ist seit vielen Jahren ein Reisender zwischen Ost und West, der Karibik und Asien, zwischen Tellerrand und Zentrum, zwischen Horizont und Wurzeln.

Leseprobe

Am Meer, damals
Eine Geschichte von der Insel

Die Ohrfeigen brannten noch immer auf meiner Wange, obwohl ich sie schon vor vielen Stunden von meinem Vater bekommen hatte. Das Blut aus der Nase war geronnen, hatte dunkle Flecken im Gesicht hinterlassen. Wenn ich die Augen auch nur leicht öffnete und mich erinnerte, bei Großvater am Ende des Weges zu sein, dann brannten die Schläge noch viel tiefer in mir. Meine Augen wurden wieder feucht. Und wenn ich den Fetzen roten Stoffs auf meiner Brust liegen sah, flossen die Tränen die Wangen hinunter. Ich nahm den Stoff in die Hand und führte ihn an die Nase, und ich atmete ihren Duft und den Geruch des Meeres ein. Dies war der Augenblick, als mein Weinen zum Schluchzen wurde. Dann fühlte ich die Hand von Großvater, die sich beruhigend auf meine Schulter legte, und ich glaubte zu hören, wie er zu mir sprach. Wir fassten uns an den Händen und hielten einander fest. Doch kein Wort kam über seine Lippen. Denn alles war gesagt.

Ich lauschte dem unruhigen Atmen von Großvater, dem Rascheln der Palmenblätter und dem Rhythmus der Wellen, die nun lauter und lauter rauschten, weil der Wind drehte. Bald darauf bin ich wieder eingenickt. Mein Schlaf war verlassen von allen Träumen. Noch gestern liebte ich das Meer. Nun fühlte ich mich verraten und verlassen.

Wenn ich erwachte, erinnerte ich mich, wie ich mich als kleiner Junge vor dem unendlichen Wasser fürchtete. Damals bin ich nie an den Strand gegangen, aus Angst, eine Welle, so groß wie ich, würde mich holen und mich hinausziehen über das Riff in das tiefe Blau. Ich konnte gerade laufen, da begann ich, auf dem Hof meiner Eltern Löcher zu buddeln und Kokosnüsse und Bananen darin zu vergraben. Was ich an Blumen und Gemüse in den Nachbarhöfen entdeckte und mir gefiel, habe ich abgerissen oder ausgegraben und auf unserem Hof wieder eingepflanzt. Oft haben die Frauen mit mir geschimpft, sobald sie sahen, dass ich abermals ihren Garten zerrupfte und meine kleinen Füße Spuren im Sand hinterließen. Ich wollte einen Garten, wie in dem Märchen, das mir meine Mutter zur Nacht in der Hängematte erzählte. Doch nichts wuchs an in dem salzigen Boden. Wohl auch, weil ich viel zu oft vergaß, den Pflanzen Wasser zu geben.

Als ich größer wurde, traute ich mich in Richtung Strand. Dort sprach ich eines Tages den alten Fischer an, der einige kleine Fische in einen Eimer warf. „Was machst du da? Warum stinken die so? Warum ist das Meer grün? Warum ist das Meer blau? Wer wohnt im Himmel? Wer hat das Riff gebaut? Warum guckst du so traurig? Warum hast du viele Falten im Gesicht?“ Das waren meine Fragen und noch viele mehr, denn in jedem Wort steckte wieder eine neue Frage.

Der alte Fischer wusste zu jeder Frage eine Antwort: „Ich lege das Segel zusammen, denn ein Segel ist wie ein guter Freund und bringt dich voran. Mit Freunden muss man sorgsam und freundlich umgehen. Die Fische stinken nicht, sie riechen nach dem Meer und der Freiheit, sie duften nach Abenteuer. Das Meer ist grün, weil es die Hoffnung ist, die Hoffnung auf einen großen Fang. Das Meer ist blau, weil es so viele tiefe Geheimnisse birgt. Im Himmel wohnen die Träume, die nachts zu dir kommen, wenn du brav bist. Das Riff haben die Korallen gebaut, damit unser cayo vor Stürmen geschützt ist. Ich hab so viele Falten im Gesicht, weil ich ein alter Fischer bin, dem die Sonne und das Salzwasser die Haut gegerbt haben.“

Die Frage nach der Traurigkeit in seinen Augen überhörte der Fischer. Aber ich passte auf und sagte: „Warum guckst du so traurig?“

Der Fischer wollte mich wegscheuchen und sagte brummend: „Geh zu deiner Mama, huahua.“

Doch ich bin stehengeblieben und fragte nur: „Warum?“ Da setzte sich der Fischer auf einen Stein und hob mich auf seinen Schoß. Er blickte zum Riff und sagte: „Weil ich das Meer so liebe, huahua.“

„Und?“ war meine Frage.

„Weil das Meer mich nicht so liebt, wie ich es liebe. Sieh meinen Fang an, ein paar kleine Fische. Und das nach einem Tag und einer Nacht. Den Gang zur Leeseite kann ich mir mit diesem Fang ersparen.“

„Das versteh ich. Das Meer soll dir einen richtig Großen an den Haken hängen, einen Fetten mit einer riesigen Säge vor dem Maul. Und sag nicht immer huahua zu mir. Ich bin kein Baby mehr.“ Nach einer Weile des Schweigens sagte ich noch: „Alter.“

Daraufhin schluckte der Fischer und räusperte sich. Doch einige Wellen später schloss er seine Augen verschmitzt, und er lächelte. „Recht hast du, wenn du mich Alter nennst. Und wenn du sagst, ich will einen richtig Großen an den Haken, dann hast du auch recht. Eine Lüge wäre es, das abzustreiten. So ist es mein Junge. Das will jeder Fischer, und darum fahren wir aufs Meer.“

„Aber deine Fische machen dich doch heute satt und morgen auch. Warum siehst du trotzdem so traurig aus?“

Der Fischer öffnete seinen Mund, ohne einen Ton von sich zu geben. Ihm waren die Worte im Hals steckengeblieben.

„Nun siehst du aus wie eine Makrele am Haken“, sagte ich und fiel lachend in den Sand. Als der Fischer mich so fröhlich sah, lachte auch er und setzte sich zu mir in den Sand. Er strich mir durch die Haare und drückte mich an sich. Unsere Blicke trafen sich.

„Nun sind auch deine Affenschaukeln weg“, sagte ich.

„Meine was?“, fragte der Fischer.

„Ja, bis eben hast du so griesgrämig ausgesehen, dass die Affen an deinen Mundwinkeln schaukeln konnten.“

Nun lachte er laut und drückte mich noch fester an sich.

Von diesem Tag an lief ich immer an den Strand und wartete auf den Fischer. Er wurde mein bester Freund und ich ihm eine Hilfe beim Fischfang. Eines Tages - ich war noch keine sechs - sagte ich ‚Grandpa‘ zu ihm. Daraufhin wischte er sich mit seiner Hand eine Träne aus dem Augenwinkel. Es war Sonnenuntergang, der Himmel färbte sich langsam zum Rot einer reifen Papaya. So rot wie der Fetzen Stoff auf meiner Brust, den ich aus dem Wasser gefischt hatte.

Die Wellen des Lebens rollten über mich und Großvater hinweg. Jahr um Jahr verging mit guten und weniger guten Fängen. Und auch mit leeren Händen. Großvater ging aufrecht, und seine Stimme war klar. Nach vielen Jahren drückten die Gedanken seine Schultern nach unten, doch das merkte ich nicht, denn seine Stimme war weiter kräftig und fest. Die Wellen nahmen bei Ebbe seine Erinnerungen fort und warfen sie bei Flut zurück. So gingen und kamen die Gedanken. Immer und immer wieder. Wie die Abfälle, die einige Fischer auf das Meer fuhren und dort über Bord kippten. Spätestens der nächste Sturm warf sie zurück an den Strand. Es gab kein Entrinnen.

Viele Jahre bin ich mit Großvater hinausgesegelt und bin ihm zur Hand gegangen. Er lehrte mich, kleine Fische mit dem Kescher und dem Netz zu fangen, um damit leckere Bonitos und Makrelen an den Haken zu bekommen. Er lehrte mich, die Wolken zu lesen. Ganz leicht türkis waren sie gefärbt durch die Sonnenstrahlen, die das Riff zurückwarf. So konnten wir auf See allzeit den Rückweg finden. Großvater brachte mir bei, das Segel zu bedienen. Prall wie der Bauch einer werdenden Mutter sollte es sein, wenn der Wind von achtern kam; stramm hatte es zu stehen wie ein Soldat bei halbem Wind. Großvater sagte mir auch, wann es gerefft oder ganz eingeholt werden musste, weil die Brise sich Kraft anfutterte und zum Sturm wurde. Wenn wir weit draußen im Blauen fischten, dann zeigte er mir den Kurs, denn in der Dämmerung flogen die Seevögel zum Land.

Großvater lehrte mich auch das Lesen und Schreiben. Bei jedem Törn brachte er mir einen Buchstaben bei. In das Wasser hatte er ihn mit seinem Speer oder seiner alten Bambusrute geschrieben, nein, gepeitscht, denn Großvaters Bewegungen mit der Rute waren wie Peitschenhiebe, schnell und präzise. Meine Blicke folgten dem Zeichen im Wasser, das kaum sichtbar, wieder im Element verging. Ich machte die Bewegung nach. Erst mit der Bambusrute im Wasser, dann mit meinem Finger in der Luft. Später an Land schrieb ich den neuen Buchstaben mit meinem Zeigefinger in den Sand. Mein erster Buchstabe war das P. Und Großvater nannte mir Wörter mit P, erzählte vom großen Meer, das Pazifik heißt, und dass es dort eine Inselwelt mit dem Namen Polynesien gibt, von den Piranhas im Amazonas, die im Schwarm Menschen bis auf die Knochen abknabbern, wenn sie Blut im Wasser wahrnehmen. Nach fünf Törns kannte ich viele Geschichten und konnte meinen Namen schreiben - Pablo.

Vor allem schenkte mir Großvater Ruhe und den Horizont. Es war aber nicht der Horizont, den ich am Ende des Meeres sah.

Jahrein, jahraus hockte ich an derselben Stelle am Strand. Eines Tages blickte ich mit zusammengekniffenen Augen und hängenden Mundwinkeln zum Riff.

„Que triste, dieses verfluchte cayo“, flüsterte ich und zischte „shit“ in Richtung Riff und Horizont. Dabei wischte ich die Tränen von der Wange und murmelte: „Ich will hier weg, wäre ich doch wenigstens in Belize Town und nicht auf dieser verdammten Insel. Wie ein Gefängnis ist es hier. Alles dreht sich im Kreis, immer und immer wieder das Gleiche, jeden Tag die gleichen Gesichter, das gleiche Essen, Fisch mit Reis und Kochbananen, die gleichen Sprüche der Fischer.“ Das Meer hörte mir zu, doch es antwortete mir nicht.

Nur in den Nuancen des Meeres entdeckte ich bei jedem Blick Neues: ein hellesTürkis bei Niedrigwasser, wenn die Sonne aufstieg, das milchige Grün bei Flut, wenn die Wellen den Sand aufwirbelten, das schäumende Weiß bei Sturm.

„Jetzt bin ich schon fast so groß wie Grandpa und lebe noch immer auf dieser verdammten Insel, gefangen wie ein kleiner Fisch in einem Glas“, schimpfte ich in Richtung Riff. „Rette mich, Meer“, flehte ich. Doch meine Fantasie überzog sich mit einem undurchdringlichen Grau, wenn ich diese Rettung beschreiben wollte.

Ich pulte in meiner Nase, betrachtete den Popel und schnippte ihn auf das Wasser. Der schwimmt ja, dachte ich und war erstaunt, dass ein kleiner Fisch danach schnappte. Als kleiner Junge beförderte ich die Popel in meinen Mund. Heute schüttelte ich mich bei dem Gedanken daran, murmelte „igitt“ und tat so, als ob ich mich übergeben würde.

Wieder versank ich in meinen Gedanken, versuchte, klar zu denken, doch es war, wie ein Fischen im Trüben. Ich wartete auf etwas, irgendetwas. Worauf, wusste ich nicht, ahnte es kaum. Einen Sinn sollte es haben und mich mit Leben erfüllen. Dies Gefühl flirrte irgendwo in mir, doch es stieg nicht in meinen Kopf. Es war so wie der Duft einer Blume, die in mir blühte. Ich erinnerte, wie ich als kleiner Junge einen Garten anlegen wollte. „Vielleicht sollte ich doch Tomaten und Gurken pflanzen“, fluchte ich in meiner Wut, die meistens so still war wie eine tote Sardine.

Schon eine Ewigkeit dachte ich an Großvater, das Meer, die Fische, seine Geschichten. Mir kam der Gedanke, dass er einen Garten anlegen sollte, um das harte Leben auf See gegen ein sicheres Dasein an Land einzutauschen.

„Gemüse pflanzen“, ich schüttelte den Kopf, „am besten weg von der Insel“, da nickte ich zustimmend. Die Worte sprach ich zu den Wellen, als wären sie Großvater. Manchmal bin ich, anstatt am Strand zu sitzen, zu seinem kleinen Holzhaus gegangen. Wie immer war die Tür nur angelehnt. Ich trat ein und hockte mich auf den Holzboden. Der war voller Sand, weil Großvater nie ausfegte. Wenn es mir zu viel wurde und der Wind ihn aufwirbelte, nahm ich einen Palmwedel und fegte den Sand hinaus.

So saß ich am Boden vor dem kleinen Tisch mit den alten Zeitschriften. Viele Sportzeitschriften lagen da und Magazine, die Life und Look hießen. Immer ließ ich die neuesten Sporthefte oben liegen, weil Großvater sie las. Sie interessierten mich nicht, denn ich meinte, Basketball und Baseball muss man spielen und nicht lesen. Auch für die Hefte mit Männern auf den Titelseiten hatte ich kein Interesse. Ich kannte zwar James Stewart, Burt Lancaster und Gregory Peck bei Namen und wusste, wie die aussahen. Doch diese Filmstars waren nur Statisten in meiner Welt.

Die interessanten Hefte lagen in der Mitte. Es waren die mit den schönsten Titelbildern. So lernte ich Rita Hayworth kennen und bewundern. Ich kannte ihr Lächeln, den leicht geöffneten Mund, ihre Augen, die aufblickten. Vor allem hat mir ihr Kleid gefallen, denn Rita gewährte mir einen Blick zu ihrem Herzen. Ein Schleier der Ahnung umhüllte fortan meine Seele, wohin mich der Weg meiner Sehnsucht führen mochte. Noch mehr hatte mich das Cover von Elizabeth Taylor zum Träumen inspiriert, war sie doch nur wenige Jahre älter als ich. Elizabeth entflammte mich. Auf ewig und immer, glaubte ich. Schon nach ein paar Wochen sah ich sie mehr als Schwester, dann, mehrere Monate später, als entfernte Cousine. Schließlich vergaß ich sie fast ganz.

Vollends verrückt wurde ich jedoch bei einer Blonden, deren Foto ich einige Monate später entdeckte, als Großvater mit einem neuen Stapel der bunten Hefte aus Belize Town kam. Auf dem Titelblatt waren die schönsten dreizehn Buchstaben gedruckt, die ich je las. Dreizehn Lettern in einer einzigartigen Kombination, die ein Geheimnis offenbarten: Marilyn Monroe. Behutsam streichelte mein Zeigefinger jedes einzelne Zeichen nach. Besonders das M hatte es mir angetan. Immer wieder strich mein Finger über die Konturen, bevor er sich auf das Bild vorwagte und Linien und Kurven nachmalte. Knospen, die das Bild verhüllte, sah ich sprießen.

Marilyn schenkte mir noch tiefere Einsichten als Rita.