Plural - oder Die Vervielfältigung des Ich [Cover]

Plural - oder Die Vervielfältigung des Ich

Michael Fisch

Erste Auflage 2013
Rothenstein Verlag, Hamburg
www.RothensteinVerlag.de
Alle Rechte vorbehalten, © Rothenstein
Umschlagmotiv: Ubay Murillo »Extasis«,
2011, Öl auf Leinwand
Umschlaggestaltung: Studio Plus, Hamburg
Satz und Layout: Studio Plus, Hamburg

Hardcover Leinen 220 Seiten Euro 19,90
ISBN 978-3-9814491-3-6

ebook Euro 3,99
ISBN: 978-3-9814491-4-3

Die Sahara hat viele Seiten, auch hier in Tunesien. Berberdörfer sind auf Hügelspitzen angelegt. In den Fels sind Ksars und troglodytische Wohnungen, wie die Matmatas direkt eingebaut. Eine unendliche Weite und eine charakteristische Vielfalt zeigt diese Sahara. Weiter südlich verläuft der Horizont in der großen Wüste der Dünen und in den zahlreichen Fata Morganas. Abenteurer und Naturfreunde schwärmen von dieser märchenhaft schönen Landschaft, wie die Schwärmer im Widerstreit mit der Schwärmerei. Ein Sandsturm in der arabischen Wüste, in dem die Wüste bleibt wie sie ist, sie wechselt nur ihre Farben und es gibt keine Farbe, die in der Wüste nicht vorkommt im Verlauf langer Tage.

Dieser Roman ist dem französischen Denker Jacques Derrida gewidmet und er entwickelt polyperspektivisch ein Panorama über das Leben in Tunesien vor und nach dem politischen Umbruch. Nicht interkulturell sondern transkulturell bezieht der Autor einen pluralen Standpunkt, um die Klischeevorstellungen und Vorurteile über Tunesien und seine Bewohner zu hinterfragen und kritisch die Lebensumstände und Projektionen in ein Verhältnis zu setzen. »plural« geht das Wagnis ein, sich nicht an einem inzwischen üblich gewordenen und nicht mehr hinterfragten Erzählstil und einem traditionellen Fiktions-modus zu orientieren.

Auf einer Handlungsebene folgen wir der einen »plural«-Person, die aus persönlicher Perspektive von Ankunft, Aufenthalt und Abreise berichtet, insbesondere von den alltäglichen Beobachtung und Erfahrungen. Eine weitere »plural«-Person berichtet nüchtern und neutral von den historischen Geschehnissen, der medialen Jagd nach Schlagzeilen und nicht zuletzt den aktuellen politischen Ereignissen. Die dritte »plural«-Person berichtet, theoretisch unterfüttert, in einem Kontext von Abschweifungen, Übertretungen und Grenzverletzungen auf der Folie religiöser Verbote und sexueller Tabus.

Über den Autor

Michael Fisch [Profil-Bild]

Michael Fisch geboren 1964 Gerolstein/Eifel; nach dem Abitur Ausbildung zum Buchhändler und Studium der Germanistik und Philosophie an der Freien Universität Berlin. 2000 erschien seine Dissertation über Hubert Fichte und 2010 die Habilitationsschrift über Gerhard Rühm. Von Oktober 2008 bis Juni 2011 war er DAAD-Lektor in Tunis. In dieser Zeit entstand seine Lebens- und Werk- beschreibung über Michel Foucault, die 2011 unter dem Titel »Werke und Freuden« erschien. Im Folgejahr hatte er einen Forschungsaufenthalt am Institut für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin, bei dem sein kommentiertes Verzeichnis deutsch- sprachiger Koran-Ausgaben unter dem Titel »umm-al-kitâb« (2013) entstand. Seit September 2012 hat er eine Professur in Kairo inne. »plural« (Tunesien) ist der dritte Roman des zehnbändigen Erzählzyklus »Eine Neue Welt«, dessen fünfter Band unter dem Titel »khamsa« (Marokko) vor drei Jahren erschien. Der siebente Band mit dem Titel »viktor« (Algerien) ist in Arbeit.

Leseprobe

seine Devise / son devise

Die philosophische Arbeit besteht in einer beständigen Überschreitung: alles tun, um seine eigene ethnozentrische und geographische Grenze anzuerkennen, aber auch, um sie zu überwinden, ohne sie zwangsläufig zu verraten. Jacques Derrida

Wir sind roh wie ein unbearbeiteter Fels. Er ist ein rauer und unbehauener Stein. Ich bin das nicht in der Mehrzahl vorkommende Wort mit dem Namen »roh« [cru]. Das rohe Wort, das mir streitig gemacht wurde, als mich ein anderer überbieten, seinen Einsatz überhöhen wollte und dann das Wort roh selbst sagte. Ich erhöhte sofort das rohe Wort. Mit ihm streiten über das, was roh ist, und mit ihm unumwunden darüber sprechen, was sprechen heißt, als ob er sich bis aufs Blut ereifern könnte, um mich daran zu hindern, denn schließlich weiß er ja, was das Rohe ihm abverlangt, aber er wollte mir das Rohe entwenden.

Und er macht es in seiner Sprache, in der Sprache der Anderen (nicht des Anderen), in jener Sprache, die mir seit jeher zuläuft, mich umkreist, in einer Referenz des »um mich herum«, in einer Referenz, die mit den Feuerzungen nach mir schlägt und die ich meinerseits zu umgreifen versuche. Denn stets liebte ich nur das Unmögliche, das Rohe, an das ich nicht weiter denken wollte. Ich hatte diesen Traum von einer anderen Sprache, von einer Sprache der Anderen, von einer rohen und unbearbeiteten Sprache, denn nur so wird die Sprache zu einer »Flut« [crue].

Ich glaube an das rohe Wort, das durch meinen Hörgang zu einem Glaubensbekenntnis wird, das eine Konfession in sich trägt und ganz selbstverständlich zur Gläubigkeit, zum Glauben, zur Konfession, aber auch zur Leichtgläubigkeit führt. Wer denkt da nicht an den heiligen Augustinus? Seine Bekenntnisse sind Konfessionen. Die Sprache ist wie das »Blut« [cruor], das in meinen Adern fließt, in meinem unsichtbaren Inneren, im Innersten meines Lebens, denn das Blut gibt sich von selbst hinein in meine Sprache.

Die Schwurformel, die Einleitungsformel oder, besser im Original gesagt, die Basmala lautet: »bismi-llahi r-rahmani r-rahim« (Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Allbarmherzigen). Sie schallt von überall her von den blauen Dächern der weißen Häuser auf den grauem Asphalt. Im Monat Dhu’l-Qa’dah im Jahr 1429 nach der »higra« komme ich nach Tunis und sehe zunächst vor allem diesen unvorstellbaren Kommerz. Keine Spur von Islam und einer wie auch immer imaginierten »le monde arabe«. Zumindest sind diese Spuren nicht auf den ersten touristischen Blick zu erkennen. Das sind bekanntlich Stereotypen eines Orientalismus, den die meisten Europäer in sich tragen. Tunis ist von den internationalen europäischen Flughäfen in Frankfurt, Madrid, Mailand, München, Paris oder Rom nur wenige Flugstunden entfernt. Für einen Nachtflug von Tunis nach Köln braucht es keine drei Stunden. Tunis ist auch darum europäischer als jedes andere arabische Land, sowohl im Megarib wie im Mescharik.

Ich schwöre beim Herrn des Ostens und des Westens, dass wir dessen mächtig sind: »fa-lâ uqsimu« (70:40). Im Mescharik, im Osten geht die Sonne auf, und im Megarib, im Westen geht sie unter, denn so will es der Herr des Ostens und des Westens »rabbu l-masriqayni wa-l-magribayni«, der Herr der Dualismen in den beiden Osten und in den beiden Westen (55:17). Denn Euer Gott ist ein Einziger, er ist der Herr der Himmel und der Erde und dessen, was dazwischen ist, er ist der Herr der Aufgangsorte »al-masâriqi«, das heißt jener dualen, also pluralen Orte, an denen die Sonne aufgeht (37:5).

Tunis ist europäischer als Algier und Oran, Marrakesch und Rabat, Bengasi und Tripolis. Die tunesische Jugend und deren Mütter und Väter sehnen sich nach einem europäischen Lifestyle und tragen die gar nicht so schlecht produzierten Kopien englischer, französischer, italienischer und spanischer Modehäuser. Die Konsumenten glauben zumeist, dass diese Produkte echt sein könnten, und denken nicht daran, dass diese oftmals in Hinterhofschneidereien kopiert und genäht wurden. Vieles kommt aus Tunesien, das meiste stammt aus China. Während es in einigen europäischen Metropolen alternative Wege eines Sozialverhaltens gibt und man inzwischen auf Produktmarken und Modelabels verzichten kann, scheinen die alten Siglen des Kapitalismus hier in Tunis als werthaltige Symbole durch alle Gesellschaftsschichten hindurch zu wirken. Der Kampf um Demokratie, Freiheit und Menschenwürde ist auch ein Kampf für den Kapitalismus, der Wunsch nach unendlichem Kommerz und der Traum vom unbeschränkten Konsum. Wohlstand wird nicht zuletzt als eine Möglichkeit verstanden, europäischen Mustern und Vorbildern nachzueifern. Der »Trieb« [pulsion] rundet sich nicht, solange das Blut weiter in den Adern fließt. Die Möglichkeit, diesen Kreis zu verlassen, nimmt eine nicht umkreisende Sprache.

Hier leistete das alte Regime, das am 14. Januar 2011, also am achten Safar 1432, symbolisch in der gierigen Familie Trabelsi und dem entmachteten Herrscher Ben Ali Tunesien verlassen musste, über viele Jahrzehnte gute Arbeit. Über Satellitenprogramme lassen sich kosten- und problemlos mehrere Hundert Fernsehsender empfangen. World Fashion TV (Sendeplatz 470) und TV Moda (Sendeplatz 521) strahlen ihre Berichte über die Modemessen in London, Mailand und Paris täglich aus. Hier sind die Designer, Labels und Models scheinbar zum Greifen nah. Das arabische Fernsehen verspricht gegen Bezahlung Konsum, Mode, Sex.

Die zwanzig schönsten männlichen Models dieser Zeit waren Baptiste Giabiconi, Simon Nessman (heute immer noch Platz 2), Clement Chabernaud (heute immer noch Platz 3), Nikola Jovanovic, Nils Butler (nur noch Platz 26), Yuri Pleskun (nur noch Platz 12), Adrian Sahores (nicht mehr präsent), Josh Beech (auch auf Platz 12), Adrian Bosch, Marc Cox (nicht mehr präsent), Vladimir Ivanovic (nicht mehr vorhanden), Max Motta, Vladimir Nylander (nicht mehr vorhanden), Tomek Sczzukiecki (leider vergessen), Gen Hulsmans (ebenfalls vergessen), Anthon Wellsjo, Luis Borges, Matvey Lykov, Jacob Coupe und Corey Baptiste (nur noch Platz 13). Nach fünf Jahren belegt der ausdruckslose Sean O'Pry den ersten Platz im Ranking von www.models.com, dem Top 50 der Male Models.

Der Modemacher Karl Lagerfeld widmete im Jahr 2010 dem zwanzigjährigen französischen Männermodel Baptiste Giabiconi einen Bildband: »The Beauty of Violence – Die Schönheit der Gewalt«. Die Fotos sind erotisch und kraftvoll. Giabiconi wirft sich in Posen und zeigt seinen Körper. Auch in anderen Bereichen fördert Lagerfeld seine männliche Muse. Giabiconi präsentierte auf Lagerfelds Initiative hin als einziges Männermodel unter zahllosen Frauen zahlreiche Chanel-Produktionen auf dem Laufsteg. Das ist darum bemerkenswert, weil Chanel ausschließlich Damenbekleidung produziert, aber bei den Laufsteg-Schauen hin und wieder für Herren modifizierte Damenmodelle zeigt. Die Website www.models.com listete Giabiconi bis 2011 nahezu zwei Jahre lang auf dem ersten Platz der fünfzig bestbezahlten und meistgebuchten Männermodels – heute nur noch auf Platz fünfzehn. Kennengelernt haben sich Lagerfeld und Giabiconi 2008 im Jahr meines tunesischen Beginns.

Baptiste Giabiconi trägt ein weißes No-Label-T-Shirt, eine dunkle Cord-Jeans von Current Elliot und Schuhe von Louis Vuitton. Sein Glamour beschränkt sich auf die Füße und sein Genuss auf ein Glas Wodka am Abend. Es ist ein Eingeständnis ohne Hymne und ohne Tugend.

Heute träumen europäische Menschen weniger von Mode als früher, denn heute bildet Mode für sie und jeden anderen kein Versprechen mehr ab. Es bleibt nur noch das Produkt übrig. Die Werbung für Marken-Taschen etwa will Kunden Objekte und keine Träume mehr kaufen lassen, so wie es früher einmal war. Yves Saint-Laurent empfahl noch, dass eine Frau besser ihre Hände in den Taschen ihres Anzugs habe oder ihren Geliebten an der Hand halte, als etwa eine Handtasche zu tragen. Das Gesetz der Wiederholung funktioniert nicht mehr: Was sich wiederholt, muss sich selbst wiederholen, kann aber niemals identisch sein. Vielfalt und Konsistenz zerstreut und versammelt, Mode sollte darum zurück zu ihrer Formation, ihrer Gestaltung, ihrer Gestalt. Der übliche Mann ist davon überzeugt, dass die Rache immer schon ein weibliches Geschäft gewesen sei. Die Frau habe einfach mehr davon, Rache zu nehmen, als dem Mann beizuschlafen. Eines Tages werden Frauen ihre Männer töten, doch wer wird als Zeuge antreten und das nicht schätzen können? Der Ersatz für den Beischlaf ist die Mode.

Mode war einmal ein großes Versprechen, auch weil sie den Glamour, die Provokation und den Tabubruch brauchte. Das scheint heute verloren zu sein, weil der Kapitalismus und die Globalisierung die Mode zu schwierigen Kompromissen zwingen. Vier Kollektionen pro Jahr und zwei Mal eine Haute-Couture-Schau zollen ihren Tribut, der sich im effektiven Qualitätseinbruch und in kreativer Langeweile zeigt. Alles war schon einmal da. Modedesigner wenden sich den Drogen zu. Yves Saint-Laurent machte das gar öffentlich und starb 2010, John Galliano erklärte 2011 sturztrunken, dass er Hitler liebe, und Alexander McQueen nahm sich auf dem Zenit des Erfolgs 2010 das Leben. Zurück bleibt der Übermensch Karl Lagerfeld. Dem Modedruck halten nur wenige stand, vielleicht noch Tom Ford mit seiner einzigartigen, luxuriösen Sinnlichkeit oder die sich im Rentenalter befindende Miuccia Prada oder Nicolas Ghesquière, der inzwischen Balenciaga verlassen hat, oder Riccardo Tisci, wobei Givenchy keine Haute-Couture-Schau mehr veranstaltet.

Karl Lagerfeld ist umgeben von umsichtigen Helfern. An seinem Beschützer und Vertrauten Sébastien kommt niemand vorbei. Er kennt Karl, seitdem dieser vierzehn Jahre alt war. Und Frédéric kümmert sich um das leibliche Wohl der vielen Models und Assistenten. Er ist nicht nur der Kellner für Lagerfelds Diät-Cola. Inès war Model bei Chanel, bis sie einen Streit mit dem Meister hatte. Nun läuft sie seit diesem Jahr erneut für ihn. Das Model Baptiste ist neben Inès und Claudia ein Lagerfeld-Geschöpf. Dank der Unterstützung von Karl ist diese neue männliche Muse in den Model-Himmel aufgestiegen und war lange auf dem ersten Platz der Modewelt. Der 1933 in Hamburg zur Welt gekommene Karl Lagerfeld hat selbst den 1936 im algerischen Oran geborenen Yves Saint-Laurent überlebt. Knapp dreißig Jahre entwirft und zeigt er seine Kollektionen. Er meistert parallel Chanel und Fendi, fotografiert und erledigt Werbeaufträge. Immer wieder dieser Karl, ein Übermensch. Welche Schuhe verleihen Macht? Natürlich High Heels! Welche Farbe passt immer? Nur Schwarz! Welche Farbe passt im Alter? Beige ab fünfzig!

Armani
Balenciaga Calvin Klein
Bally Cerruti 1881
Borelli Chanel
Brioni Chopard
Boss Dior
Bulgari Dolce & Gabbana
Burberry Donna Karan
Byblos

Etro
Salvatore Ferragamo Fendi
Gianfranco Ferre Tom Ford
John Galliano Jean-Paul Gaultier
Nicolas Ghesquière Givenchy
Gucci Guerlain
Hermes Tommy Hilfiger

Iceberg Kenzo
Christian Lacroix
Karl Lagerfeld
Marc Jacobs Lanvin
Ralph Lauren
Wolfgang Joop Yves Saint-Laurent

Missoni
Moschino Miuccia Prada
Fred Perry
John Richmond Savile Row
Jil Sander Paul Smith

John Varvatos Gianni Versace
Louis Vuitton Ermenegildo Zegna

Aus Anlass der Eröffnung der neuen Filiale von Louis Vuitton in der Londoner Bond Street, die von World Fashion TV live präsentiert wurde, zeigte sich der US-amerikanische Innenarchitekt dieses Modetempels Peter Marino komplett in schwarzem Lederoutfit mit einem silbernen Kreuz am Lederhemdkragen und einer ledernen Kappe auf dem Kopf. Die dunkle Sonnenbrille verbarg seine Augen, und der Vollbart versteckte sein Gesicht. Zu sehen war ein undefinierbarer Körper, eingehüllt in schwarzes glattes Leder. Man sagt über ihn: „Er trägt nur Schwarz, dabei ist er der Meister der weißen Farbe.“ Peter Marino gestaltet die Läden zahlreicher Luxusmarken. Bei der Präsentation seiner neuen Kollektion in einem weiteren Fernsehbeitrag von World Fashion TV zeigte Giorgio Armani attraktive männliche Models, die zum Ende der Show in einem ähnlichen Kostüm erschienen wie der Innenarchitekt Peter Marino. Über zwanzig schwarze Ledermänner marschierten soldatisch auf einem schwarzen Laufsteg und beendeten diese Prêt-à-porter-, diese Konfektions-Show, diese maßgeschneiderten Kreationen, diese exklusive Haute-Couture, diese Schau höchster Schneiderei in einer schwarzen Unendlichkeit. Peter Marino richtete Läden für Chanel und Fendi, Armani und Dior, Valentino und Vuitton ein. Er feiert darin weltweit Luxusmarken der Modeindustrie. Er ist der Erfinder einer Shoppingerfahrung. Selbst in Schwarz gekleidet, favorisiert er hierfür die Farbe Weiß. Er ist in schwarzes Leder gehüllt, Lederriemen umspannen den muskulösen Körper. Schnauzbart, Irokesenschnitt und ein lautes Lachen zeigen die Marino-Marke. Ihm ist es egal, wenn ihn die Menschen anstarren.

Meeresspiegel / niveau de la mer

Die Figur des Bösen ist der Missbrauch einer Autorität außerhalb ihres als normal unterstellten Ausübungsbereichs.
Jacques Derrida

Am Anfang schlage ich mit der Maschine die Schrift aus mir heraus. Ich schlage die Maschine an die Wand und die Schrift auf das Papier. Es ist weder eine logische noch eine textuelle Maschine. Mein Geständnis wird zum geträumten theologischen Programm wie in den Bekenntnissen des heiligen Augustinus oder in den Konfessionen von Jacques Derrida. Augustinus notiert in den vier Jahren von 397 bis 401, Derrida bekennt sich von 1976 bis 1989, und ich schreibe in dem Rahmen von 2008 bis 2011. Ich war neunhundertundsiebzig Tage in Tunesien. Als ich Ende Oktober in Tunis ankam, überraschte mich die Werbung für westliche Produkte des Kapitalismus, insbesondere deutscher, französischer, italienischer und spanischer Marken, in einer besonders aggressiv-plakativen Weise. An zuvor freien Hauswänden warben Werbeflächen für diese Marken. Dort wo es nichts zu konsumieren gab, lächelte väterlich und allmächtig der Präsident der Republik Tunesiens Zine al-Abidine Ben Ali von oben auf sein Volk herab. Ihn sollte ich noch weitere achthundert Tage sehen. Am Tag meiner Abreise am 20. Rajab 1432 nach knapp tausend Tagen in Tunesien sind die Präsidentenporträts verschwunden, geblieben sind die Produkte und die kommerziellen Träume ihrer potenziellen Käufer.

Der siebente Kalif der Abbasiden Abu l-Abbas Abdallah al-Ma’mun ibn Harun ar-Raschid förderte bereits vor einem Jahrtausend insbesondere die Philosophie und die Wissenschaft. Um die den Wissenschaften gegenüber skeptische islamische Orthodoxie in ihre Schranken zu verweisen, gab al-Mamun in der Zeit von 813 bis 833 den Anstoß zur Beschäftigung mit der Philosophie, indem er von einem Traum berichtete, in dem ihm Aristoteles erschienen sei. Diesen habe er gefragt, was das an sich Gute denn sei, und Aristoteles habe ihm geantwortet: »Gut ist, was der Vernunft gemäß ist.« Aristoteles habe allen Suchenden den Zugang zur Wahrheit gezeigt.

Der erste herausragende islamische Philosoph war Abû Ya’qûb ibn Ishâq al-Kindi, der von den Kalifen der Abbasiden geförderte Erzieher ihrer Thronfolger. Al-Kindi war vom Neuplatonismus inspiriert, hinterließ dreihundert Werke und verband die griechische Philosophie mit der islamischen Prophetenlehre. In Bagdad wirkte Abu Nasr Muhammad al-Farabi, der einen islamischen Musterstaat nach dem Vorbild des platonischen Staates entwarf. Nicht zu vergessen ist Abû l-Walîd Muhammad ibn Ahmad ibn Muhammad ibn Rushd, der unter dem latinisierten Namen Averroes veröffentlichte und einen strengen Rationalismus vertrat.

1258 verwüsten die Mongolen Bagdad und beenden das abbasidische Kalifat. Als die Sultane der Mamluken nur zwei Jahre später die Mongolen besiegen, herrschen sie fortan in der arabischen Welt. Deren Herrschaft dauert immerhin ein Vierteljahrhundert an, bis die Osmanen 1517 Syrien und Ägypten erobern und damit das Mamluken-Sultanat zerschlugen.

Ich lernte einen jungen tunesischen Studenten kennen mit Namen Rabii Jmili. Ra’bî bedeutet Frühling. Er bekam den Namen von seinen Eltern, weil er am letzten Tag des Frühlings geboren wurde. Jmili stammt von Jamel, was Schönheit bedeutet, aber Jamal heißt auch Kamel. Es meint auch den, der aus der Gegend Jammel kommt, denn dieser trägt den Nachnamen Jmili. Im Januar 2011 schenkte Rabii Jmili mir ein holprig formuliertes Gedicht, denn er war Teilnehmer in meinem Seminar über die vier Dramen von Gotthold Ephraim Lessing, an dessen zweihundertunddreißigsten Todestag wir uns erinnerten.

Im April 1966 druckte die US-amerikanische Vierteljahresschrift »Foreign Affairs« die englischsprachige Übersetzung des Textes »The Tunisian Way« von Habib Bourguiba. Im Auftrag der Tunesischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland erschien eine deutschsprachige Fassung mit dem Titel »Der Weg Tunesiens« im Kölner Schäuble Verlag. Der Staatsbesuch des tunesischen Präsidenten in Westdeutschland war der Grund für diese Publikation. Auf weniger als zehn Seiten skizziert Bourguiba seine Idee einer Zukunft Tunesiens, nachdem sein Land zehn Jahre zuvor aus französischem Protektorat in die Freiheit entlassen wurde. Schon damals heißt es bei ihm: »Heute ist es im Kampf um die Entwicklung nicht anders. Der einzige Unterschied ist, dass nicht der Polizist oder die fremde Flagge unsere Würde verletzt, sondern das Bild der Not, der Unwissenheit und der Unterbeschäftigung. Wir müssen die Schlacht in erster Linie gegen uns selbst gewinnen.« Das hört sich erstaunlich aktuell an. Weiter notiert Bourguiba: »Man vergegenwärtige sich, wie langsam der Megarib aufgebaut wird! Dabei bildet dieser Raum in geographischer Hinsicht einen Block; wir haben dieselbe Sprache, denselben Glauben, dieselbe Kultur, dieselbe Vergangenheit. Ethnisch sind wir homogen. Die Grenzen, die uns trennen, sind künstlich. Und trotzdem treten wir kurz.« Auch wenn die Analyse des Megarib heute reichlich oberflächlich erscheint, sind die Kernaussagen nicht zwingend falsch. Die tunesische Jugend hat zuerst entdeckt, ihre Grenzen zu überwinden.

Erobert, besiedelt und begründet wurde Tunesien – wenn man so will – vor über dreitausend Jahren. Damals segelte Tunesien unter den Namen Ifricia, Africa, Karthago. Carthage, dessen kümmerliche Reste heute unweit meines Wohnortes La Goulette als einbetonierte römische Säulen zu sehen sind. Carthage an der Küste des Mittelmeeres und bei gutem Wetter mit Sicht auf die italienische Flüchtlingsinsel Lampedusa. Heute segelt die Republik Tunesien als erstes arabisches Land, das seinen Willen zur Freiheit und Unabhängigkeit für alle überraschend plötzlich artikuliert und vor allem überraschend schnell durchgesetzt hat, auf den stürmischen und von Piraten beherrschten Meeren von Demokratie und Menschenrechten.

Wir haben denselben Glauben, meint Habib Bourguiba. Meint er damit die Orientierung an Moses und den Israeliten als den Garanten der Qur’ânischen Offenbarung? Denn Moses war zu ihnen gekommen mit den Beweisen, und nach seinem Weggang nahmen sie sich das Kalb in frevelhafter Weise: »Und als wir eure Verpflichtung entgegennahmen und den Berg über euch emporhoben. Nehmt machtvoll an, was wir euch gegeben haben, und hört! Sie sagten: Wir hören, widersetzen uns aber. Für ihren Unglauben bekamen sie das Kalb in ihr Herz zu trinken. Sag: Wie schlecht ist, was euer Glaube euch gebietet, falls ihr glaubt.« (2:93) In den Darstellungen ausländischer Medien erschien die tunesische Erhebung als überraschend und unvorhersehbar. Das ist allerdings nur die eine Seite, denn schon in den Jahren zuvor kam es wiederholt zu Aufständen und Protesten an den Universitäten, in den Phosphat-Minen von Gafsa und in den armen Regionen in Südtunesien. Bei den Wahlen zum Wissenschaftsrat am 16. Dezember 2010 in Tunis kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen von der Regierungspartei unabhängigen Studierenden und Sondereinheiten der Sicherheitspolizei.

Unabhängig davon und einen Tag später, am 17. Dezember 2010, übergoss sich der sechsundzwanzigjährige Student und Gemüsehändler Mohamed Bouazizi vor dem Polizeipräsidium in Sidi Bouzid mit Benzin und zündete sich an. In seinem Protest gegen Korruption, Rechtsbeugung und Unterdrückung, gegen Perspektivlosigkeit, Armut und soziale Ungerechtigkeit löste dieser Freitod-Versuch unkalkulierbare Reaktionen aus. In den folgenden Tagen kam es zu Solidaritäts-Versammlungen, die von der Polizei und dem Geheimdienst gewaltsam niedergeknüppelt wurden. Diese Demonstrationen waren schon bald von Gewalt begleitet: Brandstiftung, Zerstörung, Plünderung und Raub in öffentlichen Einrichtungen, Banken und Supermärkten waren an der Tagesordnung. Es kam zu Massenverhaftungen und vielen Toten. Es entstand eine Straße der Toten. Wie ein böser Traum. Verblendet, für die Heimat sterben zu wollen. Am 22. Dezember 2010 wurde die Fakultät der Wissenschaften in Tunis militärisch abgeriegelt. In den folgenden Tagen zeigte das Internet mit Mobiltelefonen eilig geschossene Fotografien und schnell produzierte Filme von brutalen Straßenschlachten, ersten Massendemonstrationen, gewaltsamer Erstürmung von Polizeistationen, Brandsetzung von Depots der Garde nationale und von der ersten großen Massenkundgebung in der Hauptstadt Tunis vor der Zentrale der Gewerkschaft am 28. Dezember 2010. Jene Gewerkschaftsredner, welche die Lage noch zu erklären versuchten, auch um die Situation beschwichtigen zu wollen, wurden ausgepfiffen, unterbrochen und angegriffen. Ende des Jahres reagierte die Staatsführung auf diese Massenproteste, die inzwischen das ganze Land erfasst hatten, mit Entlassung von bisherigen Amtsinhabern und Mandatsträgern, mit eilig angekündigten Volksbefragungen und Diskussionsrunden, mit kurzfristig geschlossenen Arbeitsverträgen für Akademiker und Angestellte im öffentlichen Dienst. Die Einschränkung der Pressefreiheit wurde zunehmend gelockert. Schnell wurde deutlich, dass diese gewaltige Oppositionsbewegung sich nicht allein aus Studierenden und schon gar nicht aus Gewerkschaftlern zusammensetzte, sondern durch Verbreitung auf neuen, auf dem Internet basierenden Kommunikationsplattformen, aber auch durch den arabischen Fernsehsender Al-Jazira ganz neue Anhänger in der gesamten Bevölkerung fand: arme Menschen wie Vertreter der Mittelschicht, Frauen wie Männer, Studierende wie Arbeiter, Junge wie Alte, Intellektuelle wie Angestellte.

Eine ebenso neue Qualität zeigte sich in den kreativen und fantasievollen Protestformen, die sich ohne Gewalt artikulierten und zuletzt doch mit der Staatsgewalt konfrontiert waren. Das Internet wurde stärker denn je durch Sperrung von Seiten zensiert, durch Verlangsamung kontrolliert und zeitweise ganz abgeschaltet. Eine Protestform, an der ich selbst mitwirkte, bestand darin, sich in komplett weißer Kleidung vor dem Innenministerium zu versammeln und in anliegenden Cafés und Restaurants, auf den Bürgersteigen und Straßen zu verweilen. Eine Schar weiß gekleideter Bürger protestierte stumm. In einer aktuellen Erhebung zur tunesischen Bevölkerung zeigte sich, dass sich die Tunesier innerhalb von zwei Jahren um 200.000 Menschen vermehrt haben. Derzeit leben in Tunesien 10,5 Millionen. Die Metropole Tunis überschreitet erstmals die Millionengrenze und im Gouvernorat Sfax leben über 930.000 Tunesier, danach folgt Nabeul als drittgrößte Stadt.

Der Freund schweigt, dieser Freund wahrt das Schweigen. Heute zumindest sagt dieser Freund nichts. Er erwähnt das Gesagte nicht einmal. Er könnte die Sprache verloren haben. Durch seine Stimme aber höre ich den Freund selbst. Jenseits der Stimme höre ich ihn auch und sein Dasein, das er in sich trägt. Bei sich tragen? Was ist innen? Was ist außen? Sich öffnen oder sich schließen für was? Eine wirkliche Revolution beginnt im Hören, nicht im Sagen.

Die Kabinettsliste vom 30. Dezember 2010 wies als Präsidenten der Republik Tunesien immer noch Zine al-Abidine Ben Ali aus, der seit über dreiundzwanzig Jahren dieses Land autokratisch, kleptokratisch und nepotistisch beherrschte und bei einer manipulierten Wahl am 25. Oktober 2009 mit knapp neunzig Prozent der Stimmen bestätigt wurde. Als Premierminister war Mohamed Ghannouchi bereits seit dem 17. November 1999 im Amt. Er sollte eine weitere politische Zukunft bekommen. Mohamed Ghannouchi wurde am 28. Februar 2011 von Béji Caied Essebsi abgelöst, einem als erfahren geltenden Politiker, der schon unter Bourguiba diente. In den achtundvierzig Stunden vor Mohamed Ghannouchis Rücktritt war es in der Innenstadt von Tunis erneut zu bürgerkriegsähnlichen Szenen gekommen. Randalierer warfen Steine, legten Feuer und plünderten Geschäfte – wie schon vor zwei Monaten. Die Schäden dieser Randale beliefen sich auf 40 Millionen Euro, hundert Geschäfte wurden zerstört und auf diese Weise 1.500 Arbeitsplätze vernichtet. Kaum war Ghannouchi weg, trauerten Tausende vor seinem Haus und skandierten: »Für uns ist er einer, der sauber geblieben ist.« Auch wenn er für das alte Regime gearbeitet habe, bräuchten sie einen Mann wie ihn. Seine Gegner verziehen ihm nicht, dass er unter Ben Ali immerhin elf Jahre als Premierminister und davor in verschiedenen Ministerämtern diente. Der siebzigjährige Ghannouchi wurde ersetzt durch den vierundachtzigjährigen Essebsi, der unter Bourguiba ebenfalls mehrfach Minister war.

Anfang Januar 2011 übertrugen sich die Proteste auf die tunesischen Gymnasien und Hochschulen. Die Belegschaften von tunesischen Firmen traten in Hungerstreik, die Lehrer legten ihre Arbeit nieder, und zahlreiche Künstler solidarisierten sich durch Aufrufe und Aktionen. Weitere junge Männer wählten spektakuläre Formen des Freitods, um auf ihre Misere aufmerksam zu machen: Der Student und Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der durch seine Selbstverbrennung die ersten Unruhen auslöste, starb am 4. Januar 2011 – nach sechzehn Krankenhaus-Tagen. Noch am 28. Dezember stand Ben Ali hilflos an dessen Krankenbett. Am 5. Januar verstarb ein tunesischer Student, der sich in einen Brunnen stürzte, und wenige Tage später ein weiterer. Der dreiundzwanzigjährige Houcine Néji aus El Omrane griff mit beiden Händen in eine Hochspannungsleitung und rief Parolen gegen die Arbeitslosigkeit. Weitere Selbstverbrennungsversuche folgten in Ariana, Kairouan, Kasserine, Le Kef, Meknassy und andernorts. Weder die UNO-Vollversammlung noch das Europäische Parlament, weder Europa noch Deutschland unterstützen zu diesem Zeitpunkt die tunesischen Proteste gegen dieses Herrschaftsregime, mit dem die Welt jahrzehntelang gute Geschäfte gemacht hatte. Sicherlich waren alle von den Ereignissen überrascht, doch das französische Außenministerium forderte noch am 3. Januar eine radikale Niederschlagung der tunesischen Aufstände. Außenministerin Michèle Alliot-Marie forderte wenige Tage später, man solle Präsident Ben Ali »in Ruhe und ohne Vorurteile beurteilen«, und am 11. Januar bot sie dessen Regime in einer Rede vor dem französischen Parlament sogar Polizeihilfe an. Ihren Weihnachtsurlaub verbrachte Alliot in einem Luxushotel in Tabarka, das der Präsidentengattin Leila Trabelsi gehörte. Der erste Bericht in einer deutschen Tageszeitung erschien erst am 7. Januar 2011 (also drei Wochen nach dem ersten Freitod-Versuch). Die Folgen waren irrational: Reiseunternehmen evakuierten vorschnell und übereilt ihre Touristen aus Angst vor Forderungen der Versicherungswirtschaft, was ungeheure Folgen für diesen bedeutenden Wirtschaftsfaktor hatte und immer noch hat. Zu keinem Zeitpunkt richteten sich die Proteste gegen Ausländer. Am 9. Januar 2011 griffen die Ereignisse auf Algerien über. Dort wurden die Aufstände durch Sicherheitskräfte sofort im Keim erstickt.

Wer bedenkt, dass 1830 die Franzosen in Algier einmarschierten und von 1954 bis 1962 ein erbitterter Unabhängigkeitskrieg herrschte, gefolgt von einem Bürgerkrieg im Dezember 1991, der um die Jahrtausendwende beendet wurde, der ahnt, dass – zwanzig Jahre nach dem Beginn der Auseinandersetzungen zwischen islamistischen Gruppierungen und Regierungstruppen – kaum ein Algerier weitere hunderttausend Tote sehen möchte. Mit der Besetzung von Algier 1830 begann Frankreichs Kolonialgeschichte in Nordafrika. Aus Arabern und Berbern wollten die Besetzer moderne Menschen machen. Am Ende stand einer der blutigsten Befreiungskriege des 20. Jahrhunderts. Die Franzosen trieben ihr Unwesen in Marokko, Algerien, Tunesien und Subsahara, außerdem in Syrien. Die Italiener beherrschten Libyen, Eritrea und den somalischen Küstenstreifen. Die Engländer kolonialisierten Ägypten und Sudan, Libanon und Irak, die Süd- und Ostküste der Arabischen Halbinsel, den Norden Somalias, Gebiete Palästinas und Jordaniens. Spanien war in Nordmarokko und im Süden unterwegs, dem heutigen Westsahara und Mauretanien. (1999 hieß es noch: Es ist gleich zwölf. Dann fängt ein neues Jahrtausend an. Wie wird es aussehen?)

Am 10. Januar 2011 wurden in Tunesien alle Bildungseinrichtungen geschlossen. Drei Tage später bildete der noch amtierende Präsident sein Kabinett rudimentär um: die Ministerien für Kommunikation, Handel und Kunsthandwerk, Jugend und Sport und Religion wurden neu besetzt und ein neuer Staatssekretär für Europafragen ernannt. Nach weiteren getöteten tunesischen Demonstranten durch Staatskräfte, die scharf in die Masse der Demonstranten schossen, mahnte die deutsche Regierung offenkundig ermüdet zur Mäßigung. Ein deutscher Staatsminister des Auswärtigen Amtes kommentierte zwei Tage später und damit fünfundzwanzig Tage nach dem Beginn der Unruhen satt und fett: »Wir beobachten die angespannte Situation in Tunesien mit Sorge und rufen alle Beteiligten zur Zurückhaltung auf. Nicht Gewalt, nur Dialog kann zu einer Verbesserung der Situation beitragen.« (N24 Fernsehen vom 11. 1. 2011). Zwei Tage später schloss sich der deutsche Außenminister dieser Worthülse an: »Wir verurteilen jegliche Gewalt.« Er fordert eine allgemeine Meinungsfreiheit und die Freilassung der politischen Gefangenen (Spiegel online vom 13. 1. 2011) Weil der Druck auf den tunesischen Präsidenten durch Berichterstattungen im Ausland wuchs, ging dieser auf die Forderungen der tunesischen Bevölkerung zum Teil ein und entließ alle politisch Inhaftierten, versprach 300.000 neue Arbeitsplätze, senkte die Lebensmittelpreise und entließ seinen Innenminister. Spätestens seit dem 12. Januar 2011 hatten die Demonstrationen in der Hauptstadt eine ungeheure Dynamik und eine große politische Kraft entwickelt. Tunesier aus dem ganzen Land demonstrierten in Tunis für Demokratie und Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Mitbestimmung. Ihre Hauptforderung bestand darin, dass dieser Präsident zurücktreten müsse. Einen Tag später kam es zu enormen Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten, zu Plünderungen und gewaltsamen Übergriffen, vor allem auch zu jenen Toten, welche die Staatspolizei zu verantworten hatte. Das Militär verhielt sich von Anfang an ruhig, stellte sich zunächst nicht gegen die Bevölkerung, um auch deren Sicherheit zu garantieren, und solidarisierte sich zuletzt gar mit dieser Protestbewegung. Umfangreiche Zeitungsberichte erschienen erst mit dem Rücktritt Ben Alis. Noch am 13. Januar sprach Ben Ali im Fernsehen an sein Volk die inzwischen bekannten Worte: »Ich habe verstanden.« (Hatte das nicht auch Charles de Gaulle gesagt?) Diese im tunesischen Dialekt und nicht wie gewohnt auf Hocharabisch gehaltene Ansprache zeigte einen Machtpolitiker, der jeden Kontakt zur Realität und zu seinem Volk verloren hatte. Er sei von seiner Umgebung getäuscht worden, es sei nun genug mit der Gewalt und er wolle nicht mehr bei den nächsten Wahlen kandidieren, erklärte er. Ben Alis Rede offenbarte, dass er eben nichts verstanden hatte. Bereits am nächsten Tag – Freitag, der 14. Januar 2011 – floh die Präsidentenfamilie nach Djiddah ins saudi-arabische Exil, das bereits 2003 dem inzwischen verstorbenen ugandischen Diktator Idi Amin Dada als Exil-Ort gedient hatte, und nahm 45 Millionen Euro in Gold aus der tunesischen Zentralbank mit. Um 15.15 Uhr entließ der Präsident seine Regierung, fünfundvierzig Minuten später erklärte er das Kriegsrecht, ab 17 Uhr galt eine von ihm verhängte Ausgangssperre, und nur dreißig Minuten später ging er an Bord seiner Maschine. Um ein Uhr morgens landete er im saudi-arabischen Exil in Djiddah.

Der Boden ist von Glasscherben übersät, die Wände sind mit Ruß bedeckt, im Pool schwimmen nun Schutt und Asche, das Luxusauto ist ausgebrannt. Nach dem Sturz von Ben Ali wird alles geplündert und verbrannt, was einmal ihm und seiner Familie gehörte. Die Wut der Bevölkerung entlädt sich nach einem Vierteljahrhundert des Schweigens. Niemand hat ein schlechtes Gewissen, ein jeder, der kann, nimmt sich, was er braucht. Es herrscht nicht rohe Gewalt, sondern eine Fröhlich...